Ein einziges mal in ihrer Geschichte wurde die Stadt Pirmasens zum Thema in der Weltpresse, dies nachdem ihre Bewohner am 12.02.1924 das von den Separatisten besetzte Bezirksamt in Brand setzten und erstürmten, wobei fast alle Separatisten zu Tode kamen und auch die Angreifer einen hohen Blutzoll zahlen mussten. Dies war das Fanal für das Ende der Separatistenherrschaft, die drei Monate lang unter dem Schutz der französischen Besatzer die Einwohner terrorisiert hatte.
Die Vorgänge an diesem Tag wurden von dem Pirmasenser Albert Gießler, der die maßgebende Rolle beim Sturm gespielt hatte, noch im Februar in Heidelberg in allen Einzelheiten aufgeschrieben und von Teilnehmern an diesem Sturm, welche in den folgenden Tagen über den Rhein flüchten mussten, geprüft und als korrekt bestätigt. Dieser Bericht wurde, nachdem die Franzosen aus der Pfalz abgezogen waren, am 1. Juli 1930 von der „Pirmasenser Zeitung“ unter dem Titel „Wie die Einnahme des Bezirksamts vor sich ging“ gedruckt. 1932 machte der bekannte Pirmasenser Publizist Dr. Oberhauser die französische Besatzungszeit in der Pfalz zum Thema seiner Doktorarbeit, wobei er als Augenzeuge des Sturms diesen auch detailliert schilderte. 1936 schrieb dann der Pirmasenser Heimatforscher Oskar Schäfer ein Buch über die Pirmasenser Separatistenzeit 1923/24, in welchem er sehr ausführlich auch den Sturm auf das Bezirksamt beschreibt, mit namentlicher Nennung der Beteiligten und Wiedergabe von Pressestimmen aus dem In- und Ausland. Schließlich schilderte die Historikerin Evelyn Stumpf in ihrer mehrbändigen Geschichte „Geliebtes Pirmasens“ 1992 ebenfalls diesen Sturm auf das Bezirksamt, wobei der Ablauf mit den vorhergehenden Beschreibungen übereinstimmt. Leider sind die alten Bücher von Dr. Oberhauser und Oskar Schäfer kaum noch zu bekommen, der Zugriff auf diese historischen Bücher im städtischen Archiv wird gar von den zuständigen Stellen erschwert, so dass den an diesem Thema interessierten Lesern der im Antiquariat noch erhältliche Band 11 „Geliebtes Pirmasens“ von Evelyn Stumpf sehr zu empfehlen ist. Damit wurde abschließend ein Stück Pirmasenser Geschichte geschrieben, welches als Tatsachenschilderung anerkannt ist.
Seit den frühen neunziger Jahren überraschen nun aber einige Schreiber mit Theorien, welche der bisherigen Geschichtsschreibung entgegenstehen. Natürlich ist es korrekt und angebracht Geschichte umzuschreiben, wenn denn eindeutige Belege neue Erkenntnisse liefern die diese Korrektur nötig machen. Bestes Beispiel dafür ist der Warren-Bericht über den Kennedy-Mord. Ganz anders liegen die Dinge aber im Falle Pirmasens, wo die Schreiber zwei historische Tatsachen in Frage stellen wollen:
a) Der Sturm war nicht vorab geplant, sonder entstand aus den Gegebenheiten und Entwicklungen an diesem Tag.
b) An dem Sturm waren nur Pirmasenser beteiligt.
Allerdings konnte keiner dieser Schreiber bislang einen stichhaltigen Beleg liefern, der die beiden Tatsachen ins Wanken bringen könnte. Es wurden nur wilde Vermutungen geäußert, Einzelaussagen herangezogen welche rein zweckdienlich waren und schließlich auf den Schriftsteller Ernst von Salomon hingewiesen, der Anfang der dreißiger Jahre in seinem Roman „Die Geächteten“ die ehemalige Kampfgruppe „Organisation Consul“ aus Bayern als Teilnehmer an diesem Sturm anführt, ohne über den bekannten Ablauf hinaus weitere Details zu nennen. Er machte sich offensichtlich, wie später die Nazis und viele andere auch, diesen damals als Heldentat gefeierten Sturm und seine dichterische Freiheit zu Nutze, um seine ehemaligen Kollegen glänzen zu lassen. Natürlich hat kein Historiker je gewagt, diese freie Dichtung als historische Wahrheit hinzustellen.
Nun kündete überraschend der Pirmasenser Schreiber für das „Jahrbuch 2025“ eine Sensation an, nämlich den Nachweis zu erbringen, dass das „Pirmasenser Fanal“ von der „Organisation Consul“ inszeniert wurde. Allerdings löste sich die Sensation schnell in Rauch auf, denn er führte nur die längst bekannte Passage im fiktiven Roman an, in welchem „eine handvoll Männer“ dieser Organisation in Pirmasens tätig wurden. Einen stichhaltigen Beweis lieferte er natürlich nicht. Neu war nur der von ihm geschilderte Sachverhalt, dass sich „Nur ein oder zwei Tage“ nach dem Sturm die 74 Teilnehmer der „Organisation Consul“in Heidelberg getroffen haben sollen, um über den Bericht des Anführers bei dem Sturm, Albert Gießler, abzustimmen. Dabei bezieht sich der Schreiber auf das oben genannte Buch von Oskar Schäfer, wobei er wohl übersehen hat, dass Schäfer von „Ende Februar“ und von 74 nach Heidelberg geflüchteten Pirmasensern schreibt, nicht aber von Kämpfern einer rechtsrheinischen Organisation. Solch eine ungeheuerliche Geschichtsklitterung sollte eigentlich keines Kommentars wert sein, doch liegt der Sturm mehr als hundert Jahre zurück und kaum einer der heutigen Leser hat sich näher mit diesen Vorgängen befasst. Darüber hinaus ist es heute sehr schwierig, historische Quellen einzusehen, welche sich mit den damaligen Vorgängen befassen. Damit ist zu befürchten, dass diese wirre Theorie in Ermangelung von historischem Wissen, von unkritischen Lesern als Tatsache übernommen wird.
Natürlich bleiben bei diesem Sturm noch viele Detailfragen offen, welche nie mehr beantwortet werden. Aber die von den Zeitzeugen geschilderten zeitlichen Abläufe stehen fest, ebenso sind viele Fakten dokumentarisch belegt. Wenn man diese Fakten und Abläufe analysiert, ergeben sich zwangsläufig Tatsachen, welche deutlich für einen ungeplanten Sturm und ausschließlich Pirmasenser als Teilnehmer sprechen:
-
Die Rheingrenze als Zollgrenze wurde von den Franzosen Tag und Nacht scharf bewacht. Der Personenverkehr über die Brücken wurde streng kontrolliert und diese Passage war oft stundenlang gesperrt. Auf dem Rhein fuhren die Franzosen Patrouille, hatten entlang des Rheins viele Beobachtungsstellen und nachts Suchscheinwerfer im Einsatz. Auf pfälzischer Seite waren die Fischerboote beschlagnahmt und angekettet und in den Fischerdörfern gab es Separatisten, welche jede Unregelmäßigkeit den Franzosen gemeldet haben. Unter diesen Umständen war es unmöglich, dass „74 Kämpfer der Organisation Consul“ unentdeckt den Rhein vor und nach dem Sturm überqueren konnten.
-
Eine solche Anzahl von Kämpfern vom Rhein nach Pirmasens zu transportieren, sie in Pirmasens unterzubringen und sie direkt nachts nach dem Sturm wieder zum Rhein zu bringen, ohne dass dies irgend jemand bemerkt haben soll, ist unmöglich. Zumal bei dem Sturm auch viele Separatisten als Beobachter vor Ort waren, welche den Einsatz dieser auswärtigen Kämpfer sicher den Franzosen gemeldet hätten. Darüber hinaus hatten ab etwa 23 Uhr die angerückten französischen Truppen die Bahnhofstrasse komplett abgeriegelt, so dass keine Gruppe von auswärtigen Kämpfern hätte abziehen können.
-
Die Franzosen verbreiteten sofort nach dem Sturm die Information, rechtsrheinische Organisationen hätten diesen Sturm durchgeführt. Das war ihre Wunschvorstellung, geradeso wie die einiger heutiger Schreiber, mit der sie eine gute Argumentation gehabt hätten, um gegen die von London geplante Wiedereinsetzung der bayerischen Verwaltungskräfte votieren zu können. Aber obwohl Bürgermeister und andere prominente Bürger unter Druck gesetzt und dahingehend befragt wurden, kam keine einzige Aussage zu Protokoll, welche auswärtige Kämpfer erwähnte.
-
In den Folgejahren kam es zu Anklagen gegen Teilnehmer des Sturms. Um die Schuld ihrer Mandanten zu mindern war es oft der Fall, dass die Anwälte die angeblichen auswärtigen Kämpfer als Hauptschuldige darstellten. Solche Darstellungen waren nur zweckdienlich und entsprachen in keiner Weise den Tatsachen.
-
Bei dem Sturm auf das Bezirksamt gab es auf Seiten der Angreifer 7 Tote und 29 Schwerverletzte, namentlich bekannt, alles Pirmasenser Bürger und kein einziger Auswärtiger.
-
Der Beschuss des Bezirksamts begann gegen 21 Uhr und erst durch diese Schussdeckung konnte mit der Brandlegung begonnen werden. Wenn dies durch auswärtige Kämpfer erfolgte, warum haben die nicht schon zu Beginn des Angriffs um 18 Uhr mit dieser entscheidenden Aktion begonnen? Dann hätte es auf Seiten der Angreifer weit weniger Opfer gegeben.
-
Wenn die Heidelberger Haupthilfsstelle diesen Sturm geplant haben soll, wie konnte es dann sein, dass solch eine aufwendige Aktion von niemandem bemerkt wurde? Es bliebe auch unverständlich, wenn die Haupthilfsstelle die Aktion in Pirmasens geheim gehalten hätte, wohingegen die Liquidation von Heinz Orbis sogar als Heldentat gefeiert wurde. Und wie konnte es sein, dass ein angeblich aufwendig geplanter Sturm so völlig improvisiert und chaotisch abläuft, wie es dann geschehen ist?
-
Gegen eine Planung des Sturms spricht auch die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion. Das Bezirksamt war ein Bollwerk, in welchem etwa 40 Separatisten arbeiteten, die ein Arsenal mit vielen Waffen und Munition zur Verfügung hatten. Nur wenige Häuser daneben war die französische Gendarmerie einquartiert, etwa 30 Mann und ebenfalls schwer bewaffnet. Hätten die zu Gunsten der Separatisten in den Kampf eingegriffen, wäre ein Sturm von vornherein so gut wie aussichtslos gewesen. Zumal - auch wenn Pirmasens keine Garnisonsstadt war - französische Truppen aus Zweibrücken in weniger als zwei Stunden per Eisenbahn verfügbar gewesen wären. Dass die Franzosen letztendlich nicht eingriffen, konnte niemand voraussagen.
-
Den Separatisten wurde im Falle der Aufgabe des Bezirksamts ein freier, gesicherter Abzug angeboten. Offensichtlich war die Mehrheit der Separatisten mit solch einem Abzug sogar einverstanden, eine Separatistenfahne wurde schon mal eingezogen. Der Abzug scheiterte letztendlich nur an Bezirkskommissar Schwaab, der seine Leute mit Waffengewalt zum Ausharren zwang. Im Falle eines Abzugs hätte es keinen blutigen Sturm gegeben, alles wäre friedlich abgelaufen.
Alle diese Fakten stehen für die historische, weiterhin bestehende Version des ungeplanten Sturms, der nur von Pirmasensern ausgeführt wurde. Aus meiner Sicht muss es so gewesen sein, dass Gießler im Laufe des Nachmittags die bedrohliche Wirkung der immer weiter anwachsenden, wütenden Menschenmenge erkannt hat und sich sicher war, damit die Separatisten zur Aufgabe zwingen zu können, was ja auch fast gelungen wäre. An einen Sturm auf das Bezirksamt dachte er zu diesem Zeitpunkt sicher nicht, denn ihm als erfahrenem Frontkämpfer musste ein Sturm unter den gegebenen Umständen als aussichtslos erscheinen (siehe oben). Als sich aber langsam abzuzeichnen begann, dass die Separatisten der Forderung eines Abzugs nicht nachkommen würden, stand Gießler plötzlich vor einem großen Problem. Ein Abzug der protestierenden Menge hätte der Stadt in der Folge ein fürchterliches Strafgericht beschert, so dass nur ein Ausweg blieb, die gewaltsame Vertreibung der Separatisten aus dem Bezirksamt. Dies war aber ohne vorherige Planung und Vorbereitung, mit den wenigen kampfbereiten Bürgern und deren dafür nicht annähernd ausreichende Bewaffnung, einfach nur eine Verzweiflungstat. Dass der Sturm dann doch noch gelang, war dem ideenreichen Agieren seiner Mitkämpfer und dem Nichteingreifen der Franzosen zu verdanken, wobei Letzteres alles andere als vorhersehbar war. Gießler hatte gezwungenermaßen ein Va banque Spiel gespielt, er muss am Ende überrascht und erleichtert gewesen sein, dass es trotz allem zum Erfolg geführt hat.
Manfred Woll, September 2025
Anlage zum o.g. Bericht:
Zeitlicher Ablauf des Sturms aufs Bezirksamt am 12.2.1924
-
Vormittag: Der Verlag Deil bereitet den Druck der Pirmasenser Zeitung vor und ist nicht bereit, die von den Separatisten geforderte Strafzahlung zu begleichen, womit ein Druckverbot der Separatisten bestehen bleibt.
-
ca. 11 Uhr: Durch Mund zu Mund Benachrichtigung finden sich einige dutzend Pirmasenser vor dem Verlagshaus ein, um die Separatisten daran zu hindern, den Druck der Zeitung zu unterbinden. Die Zeitung geht in den Druck und wird verkauft.
-
ca. 14 Uhr: Nach dem Aufruf des Leiters einer Abwehrgruppe, Albert Gießler, finden sich mit der Zeit einige hundert Pirmasenser am Verlagsgebäude ein um es abzusichern und in Sichtweite des Bezirksamts gegen die Separatisten zu protestieren.
-
ca. 15 Uhr: Gießler erkennt das Potential von hunderten wütend protestierender Bürger und stellt an die Separatisten eine Aufforderung zur Kapitulation, welche diese ablehnen.
-
Ab 17 Uhr: Nach Fabrikschluss finden sich tausende Pirmasenser ein, welche protestieren und mit Drohungen den weiteren Kapitulationsforderungen Nachdruck verleihen.
-
18 Uhr: Die letzte Frist für einen freien Abzug der Separatisten ist verstrichen und Gießler sieht sich genötigt, zu handeln. Trupps werden eingeteilt um das Bezirksamt zu umstellen und den Separatisten keinen Fluchtweg offen zu lassen. Da kein vorbereiteter Kampftrupp bereitsteht, improvisiert er einen Angriffstrupp mit bereitwilligen Kämpfern, welche mit wenigen Handfeuerwaffe, ansonsten nur Äxten und Knüppeln ausgerüstet sind. Der Angriff ist chancenlos und wird von den Separatisten mit Gewehrfeuer zurückgeschlagen, wobei es Tote und Verletzte gibt. Diese Opfer bringen die wütende Menge noch mehr in Rage.
-
ca. 19 Uhr: Unter Sturmgeläute rückt die Feuerwehr an, um mit Wasserspritzen die Separatisten daran zu hindern, aus den Fenstern in die Menge zu schießen, gleichzeitig werden die Straßenlaternen ausgeschaltet. Im Schutz der Dunkelheit und der Wasserspritzen versucht ein Trupp Angreifer das Tor des Bezirksamts aufzubrechen, bleibt aber erfolglos. Dann muss die Feuerwehr auf Anordnung der Franzosen gegen 21 Uhr abziehen.
-
19.45 Uhr: Gastwirt und Jäger Jean Christmann hat früh das Scheitern des Feuerwehreinsatzes erkannt und als einzige zielführende Maßnahme einen Beschuss der Fenster des Bezirksamts gesehen. Durchgeführt werden kann das nur von den Jägern, der einzigen Gruppe in Pirmasens, welche im Besitz von Gewehren ist. Durch Boten und Telefonate beordert er mehr als ein Dutzend bewaffnete Jäger für 19.45 Uhr in sein Lokal. Von dort aus gelangen sie in das Haus und den Garten König gegenüber vom Bezirksamt und nehmen das Bezirksamt etwa gegen 21 Uhr unter Beschuss.
-
ca. 21 Uhr: Beim Abzug der Feuerwehr wird die Forderung laut, im Bezirksamt Feuer zu legen, was nun unter der Schussdeckung der Jäger möglich wird. Es werden aus den Fabriken und Lagern brennbare Stoffe herangeschafft wie Benzin, Schusterpech, Kleber u.a., die Scheiben im Erdgeschoss werden eingeschlagen und mit Fackeln ein Brand gelegt.
-
ca. 22 Uhr: Der Brand ist soweit fortgeschritten, dass nun das Tor des Bezirksamts aufgebrochen und das Gebäude gestürmt werden kann.
-
Ca. 22.15 Uhr: Das untere Stockwerk steht voll in Flammen und die Separatisten haben sich in das oberste Stockwerk zurückgezogen, die Angreifer stürmen nach oben.
-
22.30 Uhr: Französische Truppen kommen am Bahnhof an, biegen aber ab, um in der Zentrale in Stadtmitte Befehle abzuwarten. Der Befehlshaber, Major Fenoul, ist im Gespräch mit Pfarrer Dr. Weis, gibt keinen Befehl in den Kampf einzugreifen und wartet ab.
-
ca. 23 Uhr: Die Separatisten sind besiegt, Schwaab wird von Gießler erschossen. Die restlichen Separatisten fliehen auf die Straße und werden fast alle von der aufgebrachten Menge gelyncht.
-
ca. 23.45: Der Sturm ist beendet.
-
ca. 24 Uhr: Die Franzosen kommen und machen sich ein Bild von der Lage, ohne in das Geschehen einzugreifen.
|